Wong Ping ist einer der exzentrischsten Künstler unserer Zeit … Was wahrscheinlich daran liegt, dass er in einer überaus exzentrischen Stadt namens Hongkong aufgewachsen ist, gefangen in einer noch exzentrischeren Zeit, die als postkolonial-neokoloniale Übergangsperiode bezeichnet wird. Und nun kommen wir nicht umhin, uns mit einem noch weitaus exzentrischeren „neuen Zeitalter“ auseinanderzusetzen, das seltsamerweise als „Covid und post/neo-Covid“ bezeichnet wird und die Welt insgesamt in einen exzentrischen Ort verwandelt. Es ließe sich auch als innovative Ökologie des Lebens bezeichnen.
Wie diesem neuen Zeitalter begegnen? Wong Ping orientiert sich gerne an den Tagesnachrichten, denn dort gibt es viele exzentrische Geschichten. So hatte der Besitzer eines allgemein als „Nagelhaus“ bezeichneten alten Gebäudes in Shanghai seine Fassade mit Plakaten des nationalen Führers bedeckt, in der Hoffnung, damit die Bulldozer aufzuhalten. Inspiriert von dieser ins Auge springenden Geschichte „kulturellen Ausdrucks“, einer Geste des Widerstands gegen die städtische Gentrifizierung, die sich im neuen „Vaterland“ abspielte (das seine Autorität zunehmend auf Pings Stadt ausdehnt), beschloss der Künstler, die Vorder- und Rückseite des Times Art Center Berlin mit verschwommenen und sich überlappenden Plakaten seines Gesichts zu versehen … (Was für ein nützlicher Talisman! Vielleicht bleibt das Gebäude, in dem das Times Art Center Berlin untergebracht ist, nun für immer bestehen, auch wenn Berlin zunehmend gentrifiziert wird!)
Dann werden wir in die Ausstellungsräume geführt: Es ist eine weitere exzentrische Reise in Pings Kopf, genauer, eine Reise durch einen Gehörgang in seine „innere Welt“ … Eine Reise auf der Suche nach Wahrheit und damit nach Glück. Sobald wir im Inneren angelangt sind, begrüßt uns Ping mit einer klaren Botschaft: „Was es geschafft hat, durch das Trommelfell zu dringen, ist alles Unsinn. Die einzig wahre Weisheit ist Ohrenschmalz!“
Und dann erreicht uns ein vager, aber klarer Klang aus dem Inneren … Er ist leicht, „poetisch“, etwas chaotisch und sogar unkontrolliert erotisch … Der Raum wird plötzlich transparent, aber er schließt uns auch ein. Womöglich handelt es sich um ein Vorzimmer von Platons Höhle, in der das, was man sieht, nur Schatten der eigentlichen Dinge sind. Hier, im Vorzimmer, sind nur Dinge ohne Schatten zu sehen. Welches ist nun die wirkliche Welt?
Aus Hongkong grüßt uns Ping, ziemlich intim, über den geheimen Kanal – seine Ohren sind jetzt mit unseren verbunden. Gibt es in diesem „pandemischen neuen Zeitalter“ auf der anderen Seite der Welt eine Öffnung nach draußen, die an die frische Luft führt?
Wir verlieben uns in Ping … Es wird Zeit, wieder einmal El amor en los tiempos del cólera (Gabriel Garcia Márquez) zu lesen.
9. Dezember 2021* Hou Hanru •••
Der Autor und Kurator Hou Hanru lebt in Rom, Paris und San Francisco. Derzeit ist er der künstlerische Leiter des MAXXI (Nationalmuseum für Kunst des 21. Jahrhunderts und Nationalmuseum für Architektur), Rom.
Hou Hanru kuratierte und co-kuratierte über 100 Ausstellungen in den letzten zwei Jahrzehnten auf der ganzen Welt, darunter: China/Avant-Garde, Nationales Kunstmuseum von China, Peking, 1989; Cities On The Move, 1997-2000; die Shanghai Biennale, 2000; Gwangju Biennale, 2002; Biennale von Venedig, Französischer Pavillon, 1999; Biennale von Venedig, Z.O.U. – Zone Of Urgency, 2003, Chinesischer Pavillon, 2007; die 2. Guangzhou Triennale, 2005; die 10. Istanbul Biennale, 2007; Trans(cient)City, Luxemburg, 2007; die 10. Biennale de Lyon, 2009; die 5. Auckland Triennale, Auckland, 2013; Open Museum Open City, MAXXI, Rom, 2014; Transformers – Choi Jeong-hwa, Didier Fuiza Faustino, Martino Gamper, Pedro Reyes, MAXXI, Rom, 2015-2016; Please Come Back, the world as prison?, MAXXI, Rom, 2017; Home Beirut, MAXXI, 2017-2018; Growing in Difference, die 7. Shenzhen Hong Kong Bi-City Biennale für Urbanismus und Architektur, UABB 2017-2018; The Street, Where the World is Made, MAXXI, Rome, 2018; The D-Tale – Videokunst aus dem Perlflussdelta, Times Art Center, Berlin, 2018; A Story for the Future, MAXXI’s first decade, MAXXI, Rom, 2021; Usage of Uselessness, Guangdong Times Museum, Guangzhou, 2021.
Er ist Berater von zahlreichen Kulturinstitutionen wie dem Times Museum, Guangzhou, dem Rockbund Art Museum, Shanghai, dem Solomon Guggenheim Museum, New York. Er publiziert regelmäßig in verschiedenen Zeitschriften zu zeitgenössischer Kunst und Kultur. Zudem hält er Vorlesungen und lehrt in zahlreichen internationalen Institutionen. Zu seinen Publikationen gehören: „Hou Hanru“, (Utopia @ Asialink, und School of Culture and Communication, University of Melbourne, 2014), „On the Mid-Ground“ (Englische Version veröffentlicht 2002 von Timezone 8, Hong Kong, und chinesische Version veröffentlicht 2013 von Gold Wall Press, Beijing), „Curatorial Challenges“ (Gespräche zwischen Hou Hanru und Hans-Ulrich Obrist, in „Art-It Magazine“ als „Kuratoren in Bewegung“, Japan, 2006-2012, chinesische Version, Gold Wall Press, Beijing, 2013).
* Dieses Projekt kann als „Operation Delta #5“ des Guangdong Times Museum, kuratiert von Hou Hanru, betrachtet werden. Allerdings wurde das Perlflussdelta nun offiziell in die Great Bay Area von Guangdong, Hongkong und Macau umbenannt; ein neues Silicon Valley, das verzweifelt nach seiner Legitimation als neuer Herrscher der globalisierten Welt sucht …
Video zur Ausstellung Earwax(Ohrenschmalz)
Dringt da ein Murmeln aus jemandes Ohr. Es ist das Echo, einem Übermaß an unerquicklichen Worten entsprungen, die vom Trommelfell blockiert wurden. Die, die es hindurch geschafft haben, sind nichts als Unsinn, nur das Ohrenschmalz bleibt eine Weisheit. Denke bloß nicht daran, das Schmalz herauszuklauben oder mit einem Wattestäbchen herumzustochern. Wenn du die Watte in eine Ecke drückst wirst du den Widerstand der unterdrückten Watte kaum überleben.
Machst du deinen Eltern keine Schande, wenn du nicht einmal ein bisschen Juckreiz aushalten kannst? Warte, bis das Wachs herausfällt und auf deinen Schultern landet wie Eier, die aus Fischbäuchen platzen, dann kannst du einsammeln, soviel du willst.
Oh, und ja, mein Trommelfell war schon vor der Hochzeit geplatzt, ist das ein Problem für dich?
Earwax (Ohrenschmalz) Wong Ping •••
Wong Ping, geb. 1984 in Hongkong, lebt und arbeitet in Hongkong.
In seinen Animationen, Skulpturen und immersiven Installationen kreiert Wong Ping verstörende und grelle Narrative, die konventionelle Konzepte von Begehren Besessenheit, Scham, Isolation und unterdrückter Sexualität in Frage stellen. Seine Videos besitzen eine helle und kindliche Ästhetik, der es gelingt, die tiefen psychologischen Probleme der Protagonisten auf unbeschwerte, humorvolle und offene Art in den Blick zu nehmen. Die Arbeiten Wongs beziehen sich oft auf die Kultur Hongkongs, der Stadt, in der er geboren wurde. Sie berühren aber auch alltägliche Probleme, die in der heutigen globalisierten Gesellschaft über alle physischen Grenzen hinweggehen.
Wong Ping machte 2005 seinen Bachelor of Arts an der Curtin University in Perth, Australien. 2018 erhielt er den ersten Camden Arts Centre Emerging Arts Prize im Rahmen der Kunstmesse Frieze. 2019 war er einer der Gewinner der Ammodo Tiger Short Competition beim 48. Internationalen Filmfestival Rotterdam. Zu Wongs Einzelausstellungen gehören Your Silent Neighbor, New Museum, New York (2021); Heart Digger, Camden Arts Centre, London (2019); Golden Shower, Kunsthalle Basel, Schweiz (2019); Who’s the Daddy, CAPRI, Düsseldorf, Deutschland; und Jungle of Desire, Things that can happen, Hongkong. Seine Arbeiten waren in Gruppenausstellungen zu sehen wie One Hand Clapping, Solomon R. Guggenheim Museum, New York (2018); 2018 Triennial: Songs for Sabotage, New Museum, New York (2018); RareKind China, Centre for Chinese Contemporary Art, Manchester (2016); und Mobile M+: Moving Images, M+, Hongkong (2015). Wongs Animationsfilme wurden auf zahlreichen internationalen Festivals in Belgien, Großbritannien, Mexiko und Australien gezeigt.
Wongs Werke befinden sich in mehreren ständigen Sammlungen, darunter das Solomon R. Guggenheim Museums, New York; das M+, Hongkong; das Kadist, Paris/San Francisco; die Fosun Art Foundation, Shanghai.